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Wüstengang

Die vergangene Zeit hat mich auf vielfältige Weise auf die Probe gestellt. Ich sollte mein Leben im Schatten des „Covid 19“ gestalten. Seit Monaten versuche ich die Welt zu verstehen. Statt klar zu sein, wird mein Blick immer konfuser und trüber. In einer schräg stehenden Welt ziehen neue Konkurrenten auf: Mainstream und Verschwörungstheorien; Forschungsjournalismus und Falschnachrichtenverbreitung; Politiker und Wissenschaftler; argumentierendes Reden und schwaches Denken… Und dabei das Gespenst von Anarchie der Meinungen: Links- und Rechtsextremisten prallen aufeinander, in unterschiedlichen Farb- und Rassenschleppen bekleidete Ideologien.

In mir wächst der Drang nach Ruhe und Ordnung

Die bislang verehrten Helden verlieren ihren Platz und ihre Würde. Eine gesichtslose Masse zieht auf und spuckt mit Terror um sich. Meine kleine Welt leidet darunter. Ich spüre die kalten Hände des verletzten Vertrauens, der sozialen Distanz. Mutlos schaue ich zu, wie jahrhundertelang erkämpften Rechte und Werte preisgegeben werden. In mir wächst der Drang nach Ruhe und Ordnung. Darum treffe ich die Entscheidung, diesen Sommer in die Wüste zu ziehen.
Die Wüste ist ein spiritueller Ort, an dem uns Gott näher ist, an dem uns der Himmel nahe ist. Die Wüste ist aber auch ein Ort der Versuchung. Zugleich Ort der Finsternis und des Lichtes; Ort, an dem die Dämonen hausen, und der Ort, an dem sich der Himmel über uns öffnet und wir das Geheimnis unseres Lebens feiern: dass Gott mit uns ist, ja dass der Himmel in uns ist.
Die Wüstenväter waren die Therapeuten ihrer Zeit
Ende des dritten Jahrhunderts zogen die ersten Männer in die Wüste, um sich in der Einsamkeit der Gottsuche zu widmen. Sie hatten Sehnsucht nach einem authentischen religiösen Leben, das ganz und gar von der Gottergebenheit geprägt ist und nicht von der Anpassung an den Zeitgeist. Sie entwickelten eine Spiritualität von unten. Wenn wir spirituellen Idealen folgen – meinten sie, sind wir in Gefahr, unsere Realität zu überspringen und uns mit hohen Idealen zu identifizieren. Doch dann verdrängen wir unsere Schattenseiten. Das führt entweder zur innerern Spaltung, die uns krank macht, oder aber zu einem Leben auf zwei Ebenen: Auf der spirituellen Ebene haben wir eine gewisse Frömmigkeit, und auf der menschlichen Ebene leben wir unsere Bedürfnisse nach Macht und Zuwendung aus. Von einer solcher Spiritualität geht kein Segen aus, weil sie die Wahrheit überspringt. Die Spiritualität von unten ist eine demütige Spiritualität. Demut (humilitas) kommt von humus = Erde. Demut bedeutet in diesem Sinne, den Mut, hinabzusteigen in die eigene Erdhaftigkeit, in das Schattenreich der eigenen Seele. Wer diesen Mut aufbringt, der steht mit beiden Beinen auf dem Boden.

Die Wüstenväter waren die Therapeuten ihrer Zeit

Unzählige Menschen sind damals in die Wüste gezogen, um Rat zu suchen. Sie kamen mit ihren Anliegen, und die Gelehrten haben ihnen die Probleme nicht abgenommen, sondern ihnen eine Übung mit auf den Weg gegeben. Wenn sie diese Übung praktizieren, dann wird sich ihr Leben wandeln. Sie werden mit anderen Augen auf ihre Situation schauen und sie werden sich für Gott öffnen und im Licht Gottes erkennen, worum es im Leben eigentlich geht. Es ging darum, einen Weg zu einem gelungenen Leben aufzuzeigen. Sie vermochten das, weil sie selbst diesen Weg gegangen sind.
Der Achtsame hat die Augen offen.

Und so konnten sie auch vielen Menschen helfen, die zu ihnen kamen um in ihrer Orientierungslosigkeit einen gangbaren Weg zu finden. „Bleib bei dir selbst. Schaue nicht auf die andern. Vergleiche dich nicht mit andern. Schaue vielmehr in deine eigene Seele hinein. Was kommen da für Gedanken und Gefühle hoch? Halte sie in das Licht Gottes hinein. Du sollst weder die andern verurteilen noch dich selbst. Doch entscheidend ist, dass du dich betrachtest mit allem, was in dir ist, dass du wahrnimmst, was in dir ist, und es Gott hinhältst.“

Ein Bewusst-werden! Achtsam sein bei dem, was ich tue: in meinem Leib, in meinem Gehen, in meinem Sitzen, in meinem Stehen. Das Bewusstsein, in Gottes Gegenwart zu leben, vor seinen Augen meinen Weg zu gehen, wird mich dazu führen, meine Schritte achtsamer zu setzen und wacher zu sein. Der Achtsame hat die Augen offen. Er geht wach durch die Welt. Er ist frei von den vielen Illusionen, die wir uns häufig machen. Achtsam seinen Weg gehen, das heißt weiter, ganz in dem sein, was ich gerade tue, ganz im Augenblick sein. Ich achte auf die Regungen meiner Seele bei allem, was ich tue. Das bedeutet nicht, dass ich mich ständig beobachte und beurteile. Vielmehr nehme ich wahr, was ich tue.

Schweigen ist ein Heilmittel für die Seele

Wer durch die Wüste wandert, der wird vom Schweigen eingehüllt. Manche werden irre wegen diesem Schweigen. Die Wüstenväter haben das Schweigen, das sie von außen umgibt, als inneren Weg verstanden. Für sie war das Schweigen eine der wichtigsten spirituellen Übungen. Schweigen ist ein Heilmittel für die Seele. Die erste Bedingung, dass ich das Schweigen aushalte, ist der Verzicht auf das Bewerten. Ich bewerte nicht, was in mir hochsteigt. Ich erlaube mir, dass alles sein darf, wie es ist. Ich lasse es so stehen. Ich nehme mich an mit allem, was in mir ist. Erst dann kann ich überlegen, wie ich damit umgehe. Ich möchte ja wachsen und weiterkommen. Aber ich werde nur weiterkommen, wenn ich mir eingestehe, wo ich jetzt stehe, und was mich bewegt. Die zweite Bedingung, mich im Schweigen auszuhalten, ist das Vertrauen, dass Gott mich annimmt. Ich fixiere mich im Schweigen nicht auf mich selbst, sondern ich halte das, was in mir ist, Gott hin, mit der Gewissheit, dass Gottes Licht alles zu verwandeln vermag. Ich wandere Gott entgegen.

Weite hat mit Freiheit zu tun

Ja, wer in der Wüste wandert und die Weite erlebt, der fühlt sich frei. Weite hat immer mit Freiheit zu tun. Die Wüste scheint endlos zu sein. Wer sich dieser Weite aussetzt, dessen Herz weitet sich und er fühlt eine unendliche Freiheit in sich. Diese Freiheit wird für ihn zu einer tiefen Gotteserfahrung. Damit erfährt er etwas Wesentliches von Gott. Denn Gott ist die Freiheit. Und wer Gott wirklich begegnet, der macht sich frei von allem, was ihn sonst beherrscht. So erlangt man die Ruhe: hesychia, der innere Frieden. In dieser Ruhe hören unsere Selbstvorwürfe auf. Wir sagen gemeinsam mit Gott, dass alles gut ist, was er an uns und in uns gewirkt hat. Ruhe hat mit Zustimmung zu tun: Zustimmung zu Gott, Zustimmung zur Schöpfung, Zustimmung zum Sein.

Es gibt auf dem Weg zum gesunden Leben keine Abkürzung. Auch wenn wir kulturell verbreitete Techniken zu Hilfe nehmen, sollten wir uns der Notwendigkeit der geduldigen Selbstbesinnung bewusst sein. Zwar bietet unsere technisch wissenschaftliche Welt tausend Spielarten der Manipulation und der Ablenkung von der eigenen Leere, doch gehe ich meinen Weg, mit der Gewissheit: Gottes Licht kann mir Ruhe und Frieden bringen!
So etwas lerne ich also aus der Weisheit „Apophtegmata“ der „Anachoreten“ (Aussteiger).

Pfarrei Erlöser Zürich