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Ein Gastbeitrag von Rabbi Elijahu Tarantul

Kinder des Bundes: Zweimal schliesst Gott einen Bund mit den Menschen – das zweite Mal mit einem grösseren Erfolg. Sind Sie überrascht, dass diese Aussage nicht nur aus der christlichen, sondern auch aus der jüdischen Sicht korrekt ist? Während die Christen in dem Alten (Ersten) und in dem Neuen Testament zwei Stufen einer Entwicklung sehen, schildern auch die gläubigen Juden zwei Versuche Gottes, eine Art Vertrag mit der Menschheit zu schliessen: Der erste Versuch ist aus der jüdischen Sicht allerdings nicht die sinaitische Offenbarung, sondern den Bund zwischen Gott und der Menschheit nach der Sintflut.

Es gibt kaum richtig und falsch

Der Regenbogen als das Sinnbild dieses Bundes ist nicht nur hochpoetisch (Gott hängt seinen Schiessbogen an den Nagel), sondern sehr zutreffend in Bezug auf die jüdische Perspektive der Vielfalt: In einer schwarz-weissen Gedankenwelt kann man einer „richtigen“ und einer „falschen“ Religion angehören. In dem erwähnten farbenfrohen Spektrum hingegen gibt es zwar fliessende Übergänge, aber kaum „richtig und falsch“. Eine Schwarz-Weiss-Zeichnung wird schon aus dem Grunde im Judentum verpönt, weil auch innerhalb der jüdischen Welt eine bunte Farbpalette der Meinungen, Glaubensrichtungen, Schrift-Deutungen und Verhaltensregeln das geistige Auge erfreut.

Nicht Differenzen, sondern Gemeinsamkeiten

Nur ein kleiner Pinselstrich auf der riesigen Leinwand des Judentums ist die Theologie von Rabbiner Schlomo Riskin, von dem ich meine Weihe als Rabbiner erhalten habe und der in den sogenannten „besetzten Gebieten“, in der biblischen Siedlung Efrat auf der Westbank seine Theologie von Zedaka und Mischpat (Wohltaten und Gerechtigkeit) predigt. Seit dem Grossen Aufstand gegen das Römische Reich und der Tempelzerstörung im Jahre 70 wird in der rabbinischen Gedankenwelt der ewige Konflikt zwischen Rom und Jerusalem in den Vordergrund gerückt. Riskin, hebt nicht die Differenzen, sondern die Gemeinsamkeiten hervor: Nicht die Verwüstung des Heiligen Landes durch die Römer und Kreuzfahrer, nicht die unheilvolle Ritualmordfabel (1144 in der monastischen Welt von Norwich, England entstanden) und die Inquisition, sondern die gemeinsame, jüdisch-christliche Grundlage der abendländischen Zivilisation.

Unter zwei Juden gibt es bekanntlich drei Meinungen

Eine unvergessliche Erinnerung aus meiner Zeit in Efrat: Arma virumque cano – beginnt Riskin eine rabbinische Vorlesung mit dem Vers von Vergil und schaut auf die überraschten Zuhörer, die trotz eines blutigen Terroranschlags vor wenigen Stunden den Weg in den Hörsaal nicht gescheut haben.

Der langen Tradition der Meinungsvielfalt ist es zu verdanken, dass auch ich meine bescheidene Meinung über die Vision der „Kinder des Bundes“ zur Sprache bringe, die naturgemäss von der Meinung meines Lehrers abweicht – unter zwei Juden gibt es bekanntlich drei Meinungen und vier politische Parteien. Nur ein Aspekt vereinigt (fast) alle Juden: Eine sarkastische Art von Humor, die mehr über sich selbst als über die anderen lacht.

Rabbi Dr. Elijahu Tarantul

Pfarrei Erlöser Zürich