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Ich glaube, hilf meinem Unglauben

In unserer Reihe „Glaubensdialoge“ sprach Prof. Helmut Holzhey mit Pfarrer Dr. Liviu Jitianu über Zweifel im Glauben. Brauchen wir Beweise, um überhaupt zu glauben, oder macht der Glaube gerade diese überflüssig? Im Text erfahren wir, wie vielschichtig der Glaube und die damit verbundenen Zweifel und Ängste sind. Helmut Holzhey liefert uns keine Antworten, auf all die Fragen, aber er versucht sich dem Thema anhand von Bibeltexten und eigenen Erfahrungen anzunähern.

Einstimmung

Der Leitsatz unseres Gesprächs stammt aus Mk 9, aus der Geschichte über die Heilung eines «von einem stummen Geist besessenen» Jungen. Dessen Vater redet in grosser Not Jesus an: «Wenn du kannst, hilf uns!» Jesus antwortet empört: «Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt». Wiederum der Vater: «Ich glaube; hilf meinem Unglauben!»
«Wenn du kannst» – das drückt einen Zweifel aus, wie Jesus sofort herausspürt. Die Jünger haben sich als unfähig erwiesen, den unreinen Geist auszutreiben. Vielleicht vermag es der Meister, vielleicht. Dem Vater fehlt der feste Glaube daran, das heisst das unbedingte Vertrauen zu Jesus. Was heisst aber nun: «Alles kann, wer glaubt»? Heisst es, dass der Vater selbst den unreinen Geist austreiben könnte, wenn er nur das notwendige Selbstvertrauen und mit diesem die Kraft dazu hätte? Wohl kaum, denn ein solcher Geist oder Dämon ist – wie später im Text angedeutet wird – von menschlicher Kraft nicht zu bezwingen. Vermag das Jesus? Sagt er indirekt von sich, dass er selbst einen solchen Glauben, also das notwendige Selbstvertrauen besitze? Kaum. Aufschluss könnte der Schluss der Geschichte geben: Die Jünger fragen Jesus, warum sie den Dämon nicht austreiben konnten. Seine Antwort: Sie hätten beten müssen, dh Gott anrufen, also ihren Glauben an Gott – wie er sich im Gebet äussert – ins Spiel bringen müssen.

Glaube als Vertrauen

«Ich glaube an Gott»: was sage ich damit? Im Zusammenhang unserer Geschichte aus Mk 9 sage ich jedenfalls nicht: ich glaube, dass Gott existiert. Das ist vielmehr vorausgesetzt. Ich sage damit: ich vertraue Gott. Eine andere Stelle aus dem Markusevangelium beleuchtet das: «Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh’ in Frieden!» (Mk 5,34) So spricht Jesus zu einer Frau, die sich voller Vertrauen auf seine Heilkraft an ihn herangedrängt und sein Gewand berührt hat, und ihm nun – von ihren Blutungen geheilt – «zitternd vor Furcht» gesteht, was sie getan hat. Mit seinen Worten bejaht Jesus nicht Esoterik und Wunderglauben, sondern gibt eine andere Deutung des Geschehenen. Er führt die Heilung nicht auf die von ihm in der Berührung ausströmende Kraft zurück, sondern auf den Glauben der Frau. Was hier «Glaube» heißt, ist schon auf den ersten Blick klar: bedingungsloses und vollständiges Vertrauen. Glaube als Vertrauen: das stammt nicht aus dem Intellekt, ist kein blosses Fürwahrhalten, gibt aber auch nicht nur einer Emotion Ausdruck, sondern ist ein Geschehen zwischen Ich und Du, an dem die ganze Person mit ihrem Fühlen, Wollen und Denken beteiligt ist. Wer sich einer solchen Vertrauensbeziehung überlässt, geht aber auch ein Risiko ein, er riskiert sich. Das gilt für jede Vertrauensbeziehung zwischen Menschen, und zwar gegenseitig. Und erst recht für mein Verhältnis zu Gott. Denn ich setze mich dabei dem Risiko aus, von Gott enttäuscht zu werden. Ich glaube an Gott, indem ich ihm vertraue. Indem ich das bekenne, habe ich Misstrauen oder Zweifel – also die dem Vertrauen entgegengesetzte Einstellung oder Haltung – hinter mir gelassen, mindestens zurückgestellt. Es zu bekennen, es also ausdrücklich zu sagen, das ist ganz zentral.

Dazu nun noch eine andere biblische Geschichte aus Matth. 14, 22-33. Die Jünger rudern unter starkem Gegenwind auf dem See Genezareth von einem Ufer zum anderen. In der Nacht kommt Jesus, auf dem See gehend, zu ihnen. Sie schreien vor Angst, als sie seiner gewahr werden. Er spricht ihnen Mut zu: «Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!» Petrus prellt wie häufig vor: Jesus soll ihm befehlen, auf dem Wasser zu ihm zu kommen. Der tut das, und Petrus steigt aus dem Boot, kann auch zunächst auf dem Wasser laufen. Dann aber bekommt er angesichts des starken Windes Angst und droht sogleich unterzugehen. Er schreit um Rettung. Jesus streckt ihm die Hand entgegen, hilft ihm. Damit ist Petri lebensbedrohlicher Zweifel überwunden. Jesus macht Petrus aber auch klar, was passiert ist: «Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?» Warum hast du das Vertrauen zu mir verloren? Als Grund führt Jesus den Zweifel an. Und zwar den schlimmsten und gefährlichsten Zweifel, nämlich den mit Angst um das eigene Leben gepaarten Zweifel, der sich als Vertrauensverlust äussert. Nicht alle Zweifel, mit denen wir zu kämpfen haben, besitzen diese Tragweite. Ich komme darauf zurück.

Inhalte des Glaubens

Dass an Gott zu glauben heisst: Gott zu vertrauen, das ist nun allerdings nicht alles. «Ich glaube an Gott» hat eine zweite Bedeutung, die für uns bei Auseinandersetzungen über Glauben in der heutigen Gesellschaft meist im Vordergrund steht. Wenn «Glaube» in der ersten Bedeutung eine persönliche Haltung bezeichnet, eben die Haltung oder Einstellung des Vertrauens, dann umschreibt das Wort nach seiner zweiten Bedeutung den Inhalt oder Gegenstand des Glaubens, also dasjenige, was geglaubt wird. Das gilt auch für den Glauben im alltäglichen Leben. Wenn es zum Beispiel um eine Nachricht aus einem fernen Kriegsgebiet geht, die nicht hieb- und stichfest bezeugt ist, dann stellt sich die Frage, ob sie wenigstens glaubwürdig ist, ob ich also sagen kann: «ich glaube, dass es sich so verhält, wie berichtet wird». Im christlichen Kontext heisst es: «ich glaube, dass Jesus auferstanden ist». Was wir derart «glauben», ist gewöhnlich Zweifeln ausgesetzt – Zweifeln, die von anderer Seite her oder aus uns selbst auftauchen. Glaube tritt solchen Zweifeln entgegen. Wenn es um Inhalte geht, sind das in erster Linie nicht wie bei Petrus existenzielle Zweifel, die sich als Vertrauensverlust äussern, sondern Zweifel unseres Verstandes. Der biblische Beleg für einen solchen Zweifel ist in der Regel die Erzählung vom ungläubigen Thomas (Joh 20). Gemäss dieser Erzählung ist Thomas, einer der Zwölf, abwesend, als der Auferstandene den anderen Jüngern erscheint. Als er in ihren Kreis zurückkehrt, sagen sie ihm: «Wir haben den Herrn gesehen» (v. 25). Thomas erklärt, er glaube das nicht, solange er nicht selbst die Male des Gekreuzigten zu sehen bekomme und sie abfühlen könne. Das bedeutet, dass er der Mitteilung, die anderen Jünger hätten den Herrn gesehen, keinen Glauben schenken kann.

Thomas glaubt nicht.

Man sollte das nicht eigentlich als ein Misstrauensvotum auffassen, also als Ausdruck eines Zweifels an der Glaubwürdigkeit der anderen Jünger, sondern vor allem als Ausdruck dessen, dass für Thomas der berichtete Vorgang, das lebendige Erscheinen des verstorbenen Jesus, völlig unglaubwürdig ist. Thomas glaubt nicht. Das heisst einerseits: er vertraut seinen Freunden nicht; andererseits: er glaubt nicht an das Mitgeteilte, er zweifelt. Und solcher Zweifel ist höchst berechtigt, denn das, was ihm da erzählt wird, ist schlicht unglaubwürdig. Er will sehen und fühlen, er verlangt nach einem Erfahrungsbeweis. Den bekommt er acht Tage später. Doch ein Beweis macht Glauben überflüssig. Jesus aber sagt ihm: sei gläubig! Was er damit meint, scheint mir der Schlusssatz der Perikope auszusagen: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.» Der Satz spricht diejenigen Freunde Jesu an, die ihn als Auferstandenen nicht zu Gesicht bekommen. So auch uns. Mein Resümee lautet wie folgt: Der Erfahrungsbeweis taugt nicht zur Behebung des Glaubenszweifels. Er macht Glauben nur überflüssig.

Das ist nicht leicht zu akzeptieren, weil es einem Wunsch, einer Sehnsucht entgegensteht. Denn immer wieder – ich hoffe, dass Sie mir zustimmen – taucht doch in uns der Wunsch auf, wenigstens ein Zeichen göttlicher Gegenwart zu erhalten, einen Wink von oben, wenn es denn schon keine mit anderen Menschen zu teilende, über die Sinne zu gewinnende Erfahrung gibt. Viele Menschen bezeugen durchaus, dass sie ein Zeichen empfangen hätten. Auch ich deute mir gewisse Ereignisse in meinem Leben als solche Zeichen für die schützende Hand Gottes. Ganz persönlich kann man sich dessen gewiss sein, dass man eines Zeichens gewürdigt worden ist. Beweisen lässt es sich nie. Die Gewissheit besteht in einem ganz anderen Sinne, als sie der ungläubige Thomas zu haben begehrt. Sie überkommt uns im Moment des Geschehens, aber auch oft erst nachträglich und ersteht aus der Tiefendimension unseres Lebens.

Was ist der inhaltsbezogene Glaube, was ist er nicht?

In einem Leserbrief las ich einmal: «Glaube ist Meinung, und zwar nicht begründbare Meinung, auf Deutsch: aus der Luft gegriffen. Glaube unterscheidet sich nicht einmal vom Aberglauben.» Diese Auffassung, zugespitzt in der Behauptung, Glaube sei Privatsache, ist heute weit verbreitet, obwohl sie weder der Bedeutung von «glauben» im alltäglichen Leben noch erst recht dem christlichen Glauben gerecht wird.

Je mehr wir das Wesentliche christlichen Glaubens ins Auge fassen, umso manifester wird schon einmal der Unterschied zur Meinung. Den Glauben zu leben und zu bezeugen, das heißt ja nie und nimmer: eine bloße Meinung zu vertreten, und schon gar nicht eine Privatmeinung. Meinung ist immer ohne subjektive wie objektive Gewissheit, so lautstark sie auch vertreten wird.
Es ist auch grundfalsch, aus dem Umstand, dass Glaube eine, meine persönliche Sache ist, zu folgern, dass er Privatsache sei. Er hat mit meinem Inneren zu tun, aber nicht mit einer von mir selbst aus irgendwelchen Quellen genährten Spiritualität. Ja, «die Wahrheit wohnt im inneren Menschen» (mit Augustin zu sprechen), aber der Rückgang ins Innere findet dort nicht schon sein Ziel. Die Wahrheit des Glaubens geht von einem Licht aus, das ich nicht selbst anzünde, sondern das mir aufgesteckt wird. Dieses Widerfahrnis tritt manchmal schlagartig ein wie bei der Bekehrung des Paulus vor Damaskus. Oft eröffnet es, auch leise und unscheinbar, einen längeren Prozess, einen Weg, auf dem das Leben eine ganz andere Richtung nimmt als zuvor. Als beispielhaft sehe ich an, wie Augustin selbst seine Zuwendung zum christlichen Glauben schildert. Sie wird ausgelöst durch den Singsang eines Kindes im Nachbarhaus: «Nimm es, lies es; nimm es, lies es!» Augustin erfährt diesen Singsang als Aufforderung, irgendwo ein ihm gerade zur Hand befindliches biblisches Buch aufzuschlagen. Mit dem, was er dort findet, strömt ihm «Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz» («Bekenntnisse», 8. Buch).
Und ein Weiteres: Den christlichen Glauben, wie er nach seinem Inhalt im apostolischen Glaubensbekenntnis umschrieben ist, lebt man nicht privat. Auch im stillen Kämmerlein ist man dabei nicht allein, sondern in Zwiesprache mit Gott. Und wenn immer möglich wird er zusammen mit anderen Menschen im Gottesdienst gemeinsam gelebt. Das Glaubensbekenntnis, so vieles in ihm heute auch befremden mag, findet in der Liturgie seinen angemessenen Ort. Das Bekenntnis ist die adäquate Ausdrucksweise unseres Glaubens.
Christliches Glauben ist auch kein mit einem Minus gezeichnetes Wissen. Wenn ich betone, dass unser Glaube in seinem Inhalt kein Wissen ist, das heutigen wissenschaftlichen Kriterien genügt, setze ich das christliche Glauben damit nicht herab. Was wir glauben, ist immer Ausdruck des basalen Vertrauens, das wir gegenüber Gott hegen. Steckt darin aber nicht doch ein Wissen?

Der Verstandeszweifel

Zweifellos hat es einen guten Sinn, die Frage zu stellen und sich stellen zu lassen, was für eine Art von Wissen denn im Vertrauen enthalten ist. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Es handelt sich nicht um mathematisches oder wissenschaftliches Wissen, das mit den heute allgemein anerkannten und praktizierten Methoden gewonnen und gesichert wird. Glaubensinhalte sind Gegenstand unseres Glaubensbekenntnisses. Sätze wie das jüdische «Gott ist Einer» oder das christliche «Jesus ist auferstanden» sind nicht neutrale, auch von Unbeteiligten zu treffende Feststellungen und nicht Resultat von Beweisen oder bloße Wiedergabe von Beobachtungen. Das religiöse Reduit vieler Menschen besteht im Satz „es gibt einen Gott“, für dessen Gültigkeit man dies oder jenes anführt. Aber für den christlichen (wie auch den jüdischen und muslimischen) Glauben geht es schon gar nicht um (irgend-)»einen», sondern um den einzigen Gott, für uns Christen um den Gott Jesu Christi, zu dem wir uns bekennen. Gewiss, dieser Glaube ist autark und selbstgenügsam, doch er suchtnach Einsicht. Und bei dieser Suche wird der Glaube von Zweifeln heimgesucht. Die gehören dazu.

Ein Unterschied aber ist dabei wichtig: der Unterschied zwischen dem Zweifel als Mangel an Vertrauen, was einer Sünde gleichkommt, und Zweifeln wegen scheinbarer Unverträglichkeit von Verstandeseinsicht und Glaubenseinsicht. Unser Glaube wird wegen der in ihm enthaltenen und beanspruchten Einsicht in die göttlichen Dinge durch unser Weltwissen immer wieder in Frage gestellt. Man schlägt aber den falschen Weg ein, wenn man sich in der Auseinandersetzung auf die Konkurrenz des Besserwissens einlässt und sich dabei vor einem wissenschaftlichen Weltbild rechtfertigen zu müssen glaubt, das vorgeben will, was glaubwürdig ist und was nicht. Natürlich sind Abgrenzungen gegen einen mit Scheinwissen gespickten Glauben nötig, unter anderem gegen den Aberglauben. Die dafür notwendigen Unterscheidungen müssen wir auch nicht von einer philosophischen Kritik lernen – die Bibel ist voll von entsprechenden Hinweisen und Geboten. Entscheidende Hilfe gegen Aberglauben und Zweifel finden wir – wie ich denke – in der Glaubenspraxis.

Aufgeklärter Philosoph und gläubiger Christ – verträgt sich das?

Mit dieser Frage spreche ich meinen eigenen Umgang mit den Herausforderungen des christlichen Glaubens an. Der Verstandeszweifel an seinen Inhalten ist mir sehr geläufig, ja unangenehm vertraut. Was kann ich, was können wir gegen ihn aufbieten? Ich habe bei meiner Firmung vor knapp 10 Jahren das apostolische Glaubensbekenntnis abgelegt, damit aber meine intellektuellen Zweifel nicht einfach ad acta gelegt. Ich hege sie nach wie vor. Sie werden einem als Teilnehmer an wissenschaftlichen Diskursen, als Bücher- und Zeitungsleser oder in Gesprächen, aber auch mit der eigenen Lebensführung geradezu aufgedrängt. Wie konnte ich mich dann, noch dazu öffentlich in einem Gottesdienst, zum christlichen Glauben bekennen?

Zur Vorbereitung meiner Antwort führe ich einen Traum an. Er hat mit dem zu tun, was mir immer ein Anstoss war: mit dem Glauben an Christi Auffahrt in den Himmel. Dieser Glaube fiel während meines Studiums der evangelischen Theologie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre der sogenannten Entmythologisierung ersatzlos zum Opfer. Der Grund dafür war die Unverträglichkeit des modernen mit dem neutestamentlichen Weltbild.  Es gibt in unserem modernen Weltbild schlicht keinen Himmel im biblischen Sinne als einen Ort, an dem sich jemand physisch oder geistig aufhalten könnte. Wir durchdringen unseren Himmel vielmehr mit unseren Teleskopen und Satelliten, besetzen ihn mit Raumstationen usw. Eine geistliche oder spirituelle bildlose Interpretation drängt sich für diesen Glaubensinhalt auf, etwa: der Mensch gewordene Gott kehrt zu sich zurück, das Erlösungswerk ist abgeschlossen. Aber warum das in einem so überholten Weltbild zum Ausdruck bringen? Ich habe die Folgen bei meinem jüngeren Sohn zu spüren bekommen, als er 10 Jahre alt war und sich plötzlich bewusst wurde, dass der Himmel leer ist. Andererseits lebt das alte Bild vom Himmel über uns in unseren Köpfen weiter, wir blicken nach oben, wir erflehen auch Gottes Segen von oben! Der intellektuelle, durch Gebrauch unseres rational geprägten Verstandes gewiefte Zweifel behält also im normalen Alltag vieler Menschen nicht immer das letzte Wort. Mir passierte nun Folgendes:
Ich hatte noch 2 Monate nach dem relativ frühen bestürzenden Tod meines Vaters, eines evangelisch-lutherischen Pastors, das Gefühl, eine riesige Last auf mir herumzuschleppen. Dann kam ein Traum, der mich von dieser Last befreite. Wir, meine Mutter und meine Geschwister, sassen in einem kleinen Raum zusammen. Plötzlich erschien mein Vater vor einem vergitterten Fenster. Ich stand auf und sprach ihn an: Vater, du bist doch tot. Ohne darauf zu reagieren, sass er im nächsten Moment bei uns, in einem weissen Nachthemd mit bandagierten Beinen. Und er rühmte seinen neuen himmlischen Aufenthaltsort in lebhaftester Weise, ganz nahe sei er Gott. Dann trat plötzlich Stille ein, er war nicht mehr ansprechbar, sondern stand etwas über dem Boden kerzengerade nach oben ausgestreckt, um kurz darauf wie eine Rakete gen Himmel zu fahren.
Der Traum hatte als Abschluss meiner Trauerarbeit grosse Bedeutung für mich. Warum ich ihn hier aber überhaupt erzähle, liegt auf der Hand: Der Traum enthielt keine Spur von Zweifel an dem Ereignis einer Himmelfahrt. Ich verabschiedete mich in ihm, psychisch ganz real, von meinem Vater.

Zwei Welten

Nun ist der Gottesdienst, in dem wir «aufgefahren in den Himmel» als Bestandteil unseres Glaubens bekennen, kein Traum, keine private Welt. Die liturgischen Rituale wie das Glaubensbekenntnis vollziehen wir in und mit der Kommunität der gottesdienstlich Versammelten. Zu beten, zu singen oder eben seinen Glauben im Gottesdienst zu bekennen, ist auch etwas gänzlich anderes als – vom Verstand herausgefordert – über Glaubensinhalte philosophisch-theologisch nachzudenken. Die Räume, in denen das eine und das andere geschieht, sind schon einmal verschieden: Kirche hier, Arbeitszimmer oder Akademie dort. Wo philosophiert wird, gelten spezifische Regeln, die man eingeübt hat, da ist Argumentation und rationale Begründung gefragt, da hat der Intellekt das Wort. Zum Gottesdienst gehören Gebet, Gesang, Andacht, Anbetung, Bekenntnis. Mir kam schon seit meiner Jugend der Eintritt in eine Kirche, insbesondere zu einem Gottesdienst, als Eintritt nicht nur in einen heiligen Raum, sondern geradezu in ein anderes Leben vor. Diese Erfahrung hat sich seit meinem Übertritt zur katholischen Kirche nur noch verstärkt, zugleich dabei aber auch eine horrende Spannung aufgebaut. Ich bekam sie immer wieder zu spüren, wenn ich nach der Sonntagsmesse in Liebfrauen hinunter zum Hauptbahnhof ging und mich dort plötzlich unter völlig anders gestimmten Leuten befand, die Alltag lebten, mit Einkäufen oder ihrer Reise beschäftigt waren. Ich empfand das als einen Wechsel zwischen zwei Leben, die nichts miteinander zu tun hatten.

Die Spannung trat aber auch in meinem Leben, soweit es in starkem Masse von der akademischen Philosophie bestimmt war, zutage. Mit Paulus formuliert: Ist nicht die Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Christus für die Griechen, sprich die Philosophen, eine «Torheit»? Wie umgekehrt für Gott die Philosophie, die Weltweisheit, ihrerseits eine «Torheit» ist? (1 Kor 1,18ff). Bei dem von uns Christen verehrten Gott haben wir es mit einem Gott zu tun, der im Mensch gewordenen Logos Jesus Christus (Joh 1,14) spricht. Ihm gegenüber hatte Philosophie von vornherein einen schweren Stand. Das zeigt schon die Frühgeschichte des Christentums ab dem 2. Jahrhundert, in der es um die Versöhnung «zwischen Athen und Jerusalem» ging. Das auf Gotteserkenntnis zielende philosophische Denken musste sich gegenüber dem göttlichen Wort zu seiner Torheit bekennen, ohne in seinem Raum von der Suche nach Gott abzulassen. Es entstand so etwas wie «christliche Philosophie». Eine solche zu betreiben, wird heute mit und nach der Aufklärung von der grossen Zahl der akademischen Philosophen abgelehnt. Wenn christlicher Glaube überhaupt noch ein Thema ist, dann sind die meisten Stellungnahmen dazu kritisch bis vernichtend. Vor allem aber zieht der Glaube weit herum, wie es scheint, keinerlei intellektuelles Interesse mehr an. Diese Gleichgültigkeit halte ich für die grösste Bedrohung europäischen Christentums.

Die philosophische und die liturgische Welt miteinander verknüpfen

Demgegenüber war die Beschäftigung mit den sogenannten letzten Fragen mindestens bis gestern Bestandteil der Lebensform Philosophie geblieben, für mich auch und gerade dann, wenn sie sich als letztlich unbeantwortbar erwiesen. Mit dem Zugeständnis, dass unser «metaphysisches» Bedürfnis nach einer Antwort auf die Frage nach dem grossen Sinn des Lebens unerfüllt bleibt, trägt bis heute auch der Philosoph sein Kreuz. Das verbindet seine Lebensform mit der, wie ich sagen möchte, liturgischen Lebensform und den sie im Gottesdienst ausfüllenden spezifischen rituellen Handlungen. Beide Lebensformen, so wird immer wieder behauptet, gehen nicht zusammen. Dem widerspreche ich. Ich bin in beiden zuhause, stehe dabei aber auch immer wieder in der Spannung, die zwischen ihnen herrscht. Versagen muss ich mir, die eine an der anderen Lebensform zu messen. Wenn ich bete, also erzähle, gestehe, danke und bitte, dann philosophiere ich nicht, jedenfalls nicht im strengen Sinne von Philosophie; und umgekehrt. Die Feier der Eucharistie hat nichts mit Philosophie zu tun. Doch steht auf dem Spiel, ob ich mich nicht «schizophren» verhalte, also meinen Verstand opfere, wenn ich zwischen den beiden Lebensformen hin und her wechsle. Muss ich mich nicht doch für die eine oder die andere entscheiden? Viele tun und fordern das, meist im Sinne der Liquidierung einer religiösen Zugehörigkeit, aber natürlich auch von religiöser Seite aus mit dem Wunsch nach einem gottgemässen heiligen Leben. Demgegenüber scheinen mir die philosophische und die liturgische Lebensform in einem Leben verbindbar, auch wenn diese Verknüpfung nicht leicht fällt und immer wieder errungen werden muss.
Im Blick auf ein christliches Leben mit Zweifeln gesagt: Zweifel sind Ausdruck der Endlichkeit unserer menschlichen Vernunft, d.h. Ausdruck von deren begrenzter Einsichtsfähigkeit. Die Zweifel und das mit ihnen verbundene Leiden verbinden gerade philosophischen Vernunftgebrauch und Glauben.

Prof. Helmut Holzhey

Pfarrei Erlöser Zürich