Lieber Herr Tarantul,
Sie sind Rabbiner. Könnten Sie uns kurz erklären, was die Aufgaben eines Rabbiners sind und vielleicht auch, wo die Unterschiede zu einem Pfarrer liegen?
Um diese Frage ganz genau beantworten zu können, müsste ich die Arbeit eines Pfarrers genau kennen, aber leider tue ich das nicht. Ich kenne es also nur aus Erzählungen von befreundeten evangelischen und katholischen Pfarrern. Im Grunde sind sich die beiden Aufgaben sehr ähnlich: die Seelsorge, der Unterricht der Jugend, die Predigten, Abdankungen und Beerdigungen, Krankenbesuche.
Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch in der Verantwortung über die Einhaltung des koscheren Essens. In größeren jüdischen Gemeinden mit Restaurants und Lebensmittelläden muss die Einhaltung der Gesetze gewährleistet sein, und dafür zuständig ist der Rabbi. Dies stellt einen großen Unterschied dar. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Weiterbildung in den heiligen Texten, die in allen Altersgruppen erfolgen kann und der im Judentum große Bedeutung beigemessen wird.
Beispielsweise leite ich eine Gruppe von Damen, die sich einmal in der Woche zum Studium der jüdischen Texte trifft. Über die Jahre ist die Gruppe gewachsen, und nun studieren wir bereits seit 12 Jahren einmal die Woche zusammen. Mit einer unglaublichen Hingabe und Ausdauer lernen die Damen diese Texte. Es erscheint mir wichtig, dass Kinder, Jugendliche und vor allem auch Erwachsene sich da engagieren.
Jesus war bekanntlich Jude, und das Christentum würde ohne das Alte Testament nicht in seiner heutigen Form existieren. Wo sehen Sie die größte Schnittstelle zwischen Judentum und Christentum?
Also, die Wurzel ist das Judentum, oder die Mutterreligion, und in der Zwischenzeit ist das Kind viel größer geworden. Das Judentum war und blieb eine kleine Religion, während das Christentum in die Breite gegangen ist. Es ist nicht einfach, über Parallelen zu sprechen oder die Schnittstellen zu benennen. Ich habe meine rabbinische Weihe von einem berühmten Rabbiner namens Shlomo Riskin erhalten. Er entwickelte eine gesamte Theologie des jüdisch-christlichen Erbes, das aus seiner Sicht aus Gerechtigkeit, Wohltätigkeit und Liebe besteht. Sonst kenne ich mich da nicht so gut aus. Ich bin zwar Historiker, aber kein Christ.
Das Christentum hat ja eine riesige Bandbreite vom koptischen Christentum bis zum evangelischen Christentum, und da liegen Welten dazwischen. Auch das Judentum ist sehr vielfältig. Und nicht zu vergessen, die augustinische Lehre betont, dass das Judentum für das Christentum wichtig sei, weil die Juden Hüter und Überlieferer der kanonischen, christlichen Texte sind.
Der Frühling ist immer von wichtigen Festen geprägt. Bei den Juden ist es Pessach und bei den Christen Ostern. Bei den Christen spannt sich der Bogen an Ostern von tiefer Trauer und Hoffnungslosigkeit bis hin zu Trost, Freude und Sieg. Bei den Juden führt Moses mit Gottes Hilfe die Juden aus Ägypten in die Freiheit. Moses und Jesus sind zwei großartige Figuren. Was fällt Ihnen dazu ein?
Ich denke, diese beiden Persönlichkeiten sind sehr unterschiedlich, und auch die Feste sind natürlich sehr unterschiedlich. Die alte Basis des Pessachfestes ist nicht die Befreiung aus Ägypten. Pessach ist ein uraltes Frühlingsfest. Es bezieht sich auf die springenden Zicklein und Schäfchen, das Fest der frühlingshaften Lebensfreude. Moses ist ein alter Mann, und Jesus starb sehr jung. Der eine befreite sein Volk aus der Knechtschaft, der andere predigt zur Menschheit.
Finden Sie nicht, dass die beiden eigentlich sehr menschlich sind? Moses muss die ganze Zeit das Volk auf der Flucht bei Laune halten und alles managen.
Ja, im Gegensatz zu Jesus rebelliert das Volk ständig gegen Moses. Dies zeigt auch die Hartnäckigkeit und Sturheit des jüdischen Volkes. Bei Jesus folgen ihm die Menschen; es gibt da keine Auflehnung.
Eine universalistische Note von Pessach: Da wird das erste Mal in der Geschichte der Menschheit eine sehr große Gruppe von Sklaven aus der Knechtschaft befreit, so dass ein Zeichen gegen das Sklavendasein zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit gesetzt wurde.
Wie dürfen wir uns das jüdische Leben in der Schweiz vorstellen?
Die Leute gehen immer von einer viel größeren Zahl an jüdischen Einwohnern aus. Anmerkung der Redaktion: In der Schweiz leben ca. 18.000 Einwohner jüdischen Glaubens. Die Mehrheit von ihnen lebt in der Region des Genfersees und in Zürich. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in der Schweiz einen alteingesessenen Kern von Juden.
Als Beispiel: Bei mir als Gast am Schabbat war ein Oberst der Schweizer Armee, und ich sagte scherzhaft zu ihm, Ihre Vorfahren sind sicherlich schon seit zehn Generationen in der Schweiz. Darauf meinte er lächelnd: „Möchten Sie mich beleidigen? Wir sind bereits seit 12 Generationen hier in der Schweiz.“ Dies ist in Europa einzigartig.
Vielen Dank für das Interview!
Wer am letzten Sonntag zum Tag des Judentums die Predigt verpasst hat, kann Sie sich hier auf unserem Youtube Kanal anschauen.