Laudato si‘ – „gelobt seist du“, lautet die zweite Enzyklika (pdf) von Papst Franziskus. Die am 18. Juni 2015 veröffentlichte Verlautbarung über die Sorge für das gemeinsame Haus befasst sich schwerpunktmässig mit dem Themenbereich Umwelt- und Klimaschutz, und setzt zudem Zeichen im Hinblick auf bestehende soziale Ungerechtigkeiten und auf die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen.
Sie gilt als ein Aufruf zu einem weltweiten Umdenken. Titel und Anfangsworte der Enzyklika entstammen dem Sonnengesang des Franz von Assisi: „Gelobt seist du, mein Herr, mit all deinen Geschöpfen“. Papst Franziskus sagt: „Ich glaube, dass Franz von Assisi das Beispiel schlechthin für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie ist.“
Eine künstlerische Abbildung des Sonnengesangs (Terrakottaplastik von Maja von Rotz-Kammer, 1978) findet man im Pfarreisaal der Erlösergemeinde in Zürich. Während der Betrachtung dieser Plastik beginnen sich meine Gedanken um die Bewusstwerdung, Verantwortung und Dankbarkeit zu drehen.
Die Perspektive eines Aliens
Dank medialer Übertragung (YouTube) höre ich mir in letzter Zeit Vorträge von Noam Chomsky an. Chomsky, geboren 1928 in Philadelphia, ist emeritierter Professor für Sprachwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er ist einer der weltweit bekanntesten und einflussreichsten linken Intellektuellen, und einer der prominentesten Kritiker der US-amerikanischen Politik. Chomsky schlug für ein besseres Verständnis unserer geopolitischen Lage vor, dass wir dazu eine Betrachtungsweise von Aussen bräuchten: die Perspektive eines Aliens.
Wenn das Alien, wie in einer Zeitlupe, über hunderttausende Jahre die Menschheitsgeschichte beobachten würde, wäre es sehr überrascht: Während etwa 200’000 Jahren waren die Menschen als Jäger und Sammler unterwegs, und haben in wenig organisierten Strukturen zusammengelebt. Plötzlich – und das ist kaum zu erklären – vor etwa 10’000 Jahren haben sie einen wunderbaren zivilisatorischen Salto gemacht: Sie wurden sesshaft und begannen Landwirtschaft zu betreiben. Sie bauten immer grössere Städte und entwickelten komplexe Kulturen. So begann die geopolitische Expansion der Menschheit. Diese sanfte Eroberung der Erde zeigte aber bald Schattenseiten. Der Mensch begann Kriege zu führen, eroberte neue Lebensräume, tötete und versklavte andere Menschengruppen. Damit wuchs die Bedrohung einer gegenseitigen Vernichtung immer stärker.
Was das Alien noch mehr wundern würde ist, dass – obwohl der Mensch seine Welt im negativen Sinne so radikal veränderte – sich dazu kein angemessenes Problembewusstsein entwickelt hatte. Eine seltsame Form der Intelligenz machte sich mächtig, welche die Unfähigkeit zum Überleben aufzeigt.
Wer hat dies zu verantworten?
Dringend notwendige Themen, wie eine angemessene Korrektur der Lebensführung, die Überlebenschancen mit sich bringen würde, werden weder auf politischer Ebene noch im gesellschaftlichen Diskurs geboten. Statt der Unterstützung einer vereinigten, friedensstiftenden Weltregierung, das war ein Vorschlag von A. Einstein und die Gründung der Vereinten Nationen ein schwacher Versuch dazu, assistieren wir konkurrierenden Nationalismen.
Eine bunte Fläche von Machtmanövern, Manipulation, grundlose Ausbeutung, Finanzoptimierung der Grosskonzerne und der Einsatz von gefährlichen Technologien, die den Wettlauf des „Besseren“ bezeugen, breitet sich aus. Statt nachhaltiger, gedeihlicher Lebensführung erleben wir die masslose Zerstörung der Lebensräume. Es drohen ausser Kontrolle geratene Umweltkatastrophen wie die Erderwärmung (die von vielen verantwortungslosen Politikern sogar geleugnet wird!), das Ansteigen der Meeresspiegel, wodurch Zigmillionen Menschen von tief liegenden Küstengebieten zur Flucht gezwungen werden, die Knappheit der Trinkwasserressourcen, die Zunahme extremer Wetterereignisse, wie beispielsweise Dürren. Niemand scheint heute bereit zu sein, die Frage zu stellen: Wer hat dies zu verantworten? Was für eine Zukunft wollen wir kommenden Generationen bieten?
Es ist fünf vor zwölf
Die Globalisierung verändert unsere Welt: Besitzverhältnisse sind global anders gestellt, bis dahin „exzeptionelle“ Weltmächte werden entthront. Weltgeschäfte werden unter der internationalen Dominanz der Konzerne skrupellos geführt. Kaum zu kontrollierende Pandemien überfallen die Menschheit. Die Herstellung der Lebensmittel, wie industrielle Fleischerzeugung, greifen das menschliche Genom an und bewirken Mutationen des organischen Lebens. Der Wahnsinn der Aufrüstung kennt weiterhin keine Grenzen. Die Waffenproduktion, die Drohnen- und Renditions-Programme sowie expandierende Raketen-Abwehrsysteme schaffen sicherlich keinen Frieden. Dadurch wächst der Zirkel des Terrorismus, es entflammen Kriege, denn ein Funke genügt – seien sie religiös oder eroberungsstrategisch. Nuklearstrategen (sie melden sich regelmässig auf den Seiten der Fachzeitschrift Bulletin oft the Atomic Scientists, stellten die sogenannte Endzeit-Uhr auf 100 Sekunden vor Mitternacht (= Endvernichtung).
Soweit zur von Aussen gestellten Alien-Perspektive. Wird die Ablösung des Menschen wirklich herbei gesteuert? Chomsky zeichnet keine schöne Zukunft. Die Reichen und Mächtigen unserer Welt schweigen; der Grossteil der Bevölkerung oszilliert zwischen Unsicherheit und Unwissen. Arme Erde, arme Menschen …
Individuell kann man keine befriedigende Lösung finden – behauptet Chomsky. Individuell zu handeln ist lobenswert, bietet aber für die Menschheit keinen Ausweg. Kollektives, institutionelles und organisiertes Handeln ist gefragt! – schliesst er seine Gedankenreihe. Und ich, das Leib-Seele befasste Erdteilchen, öffne mich Mutter Erde:
Geliebte Erde
Ich liebe dich, Erde, mit allem, was auf dir lebt.
Gott hat dich geschaffen.
Ich liebe dich, Erde, denn Gott hat dich sehr schön gemacht, mit deinen Bäumen, Blumen und Tieren, mit deinen Menschen.
Ich liebe dich, Erde,
Gott erhält dich noch immer in seiner Treue.
Trotz aller Zerstörung, die wir angerichtet haben auf dir,
trotz Krieg, Gewalt und rücksichtslosem Ausrauben
wird es noch immer Frühling und Sommer, Herbst und Winter, kommt immer ein neuer Tag, nach dem Dunkel der Nacht.
Ich liebe dich, Erde.
Darum will ich liebevoll leben lernen
und Verantwortung übernehmen für Gottes Schöpfung.
(anonym Graffito an der ehem. Berliner Mauer)
Dr. Liviu Jitianu