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Was feiert man eigentlich an einem Nationalfeiertag?

Liebe Leser,

wir nähern uns mit grossen Schritten dem 1. August, und die ganze Schweiz bereitet sich darauf vor, diesen wichtigen Tag angemessen zu feiern. Während ich darüber nachdenke, wo und wie ich an den Feierlichkeiten teilnehmen werde, frage ich mich, was wir am 1. August genau feiern. Natürlich wissen wir alle, dass es der Geburtstag der Schweiz ist, aber ist es nicht eigentlich mehr als nur die Ehrung eines historischen Datums? An Heiligabend feiern wir die Geburt Jesu, aber eigentlich doch auch, dass wir ein Teil dieser christlichen Glaubensgemeinschaft sind, die uns über Grenzen hinaus verbindet.

Was feiern wir dann am 1. August genau? Die beeindruckende Geschichte des Landes? Dass wir in der Schweiz in Frieden und Freiheit leben können? Die Gemeinschaft mit anderen Schweizern? An einem der schönsten Plätze der Welt leben zu dürfen?  Oder feiern wir einfach, weil wir gerne feiern und dafür jeden Grund dankbar annehmen?

Wie feiern Menschen fern der Heimat ihren Nationalfeiertag?

Fragen über Fragen. Die Antwort darauf habe ich bei den Flüchtlingen gesucht, denen wir jeden Donnerstag und Samstag Deutschunterricht erteilen. Das Feiern eines Nationalfeiertages ist ja ein Zeichen von Nationalität und Identität mit dem Heimatland. Wie gehen Menschen damit um, die fern der Heimat leben müssen und deren Nationalfeiertag eventuell eng verbunden ist mit einem Regime, vor dem sie geflüchtet sind?

Eines hatten alle Antworten gemeinsam, egal ob sie von Tibetern, Eritreern oder Kurden kamen. Das Feiern ihrer Nationalfeiertage ehren nicht ein Land oder ein historisches Datum, sondern helfen, eine Gemeinschaft zu bewahren, die jedem Einzelnen weit weg von der Heimat und mit ungewisser Zukunft ein wenig Gefühl von Zusammengehörigkeit, Sicherheit und Geborgenheit gibt. Meinen kurdischen und tibetischen SchülerInnen ist ein klassischer «Nationalfeiertag», der an ein Staatsereignis erinnert, an sich schon fremd, da es für sie gar kein anerkanntes Staatsgebiet gibt.

Die Kurden leben über vier Länder (Türkei, Iran, Irak und Syrien) verteilt. Kurden aus den verschiedenen Landesteilen haben unterschiedliche Nationalfeiertage. Meine SchülerInnen feiern daher mit allen Kurden die sie kennen, egal aus welcher Region sie kommen und welcher Religion sie angehören, im April den Beginn des Frühlings. Das ist unkompliziert und ermöglicht ihnen sich in der Gemeinschaft mit dem kurdischen Volk zu identifizieren.

Den unabhängigen Staat Tibet gibt es nicht mehr

Den de facto unabhängigen Staat Tibet gibt es nicht mehr, da Chinas Regierung diese Region gegen den Willen der TibeterInnen wieder in die Volksrepublik China eingegliedert hat.  Der 10. März wird von TibeterInnen in der ganzen Welt genutzt, um Protestaktionen gegen diese Eingliederung und die damit einhergehende Unterdrückung des tibetischen Volkes durchzuführen. Über diese Protestaktionen identifizieren sich die TibeterInnen mit ihrem Volk und ihrer alten Heimat. Zusätzlich feiern sie als Ersatz für einen Nationalfeiertag den Geburtstag Ihres Dalai-Lama, dem Oberhaupt der tibetischen Exilregierung und gleichzeitig das erleuchtete Wesen des tibetischen Buddhismus.

Der Nationalfeiertag der Eritreer am 24. Mai ist der Tag der Unabhängigkeit von Äthiopien (1993). Dieses Datum ist eng mit der jetzigen Regierung verbunden, die ausschlaggebend für die Flucht dieser Menschen ist. Obwohl sie sich nicht mit dem politischen Hintergrund identifizieren, treffen sich unsere SchülerInnen aus Eritrea an diesen Tag im kleinen Rahmen, um ein wenig vertraute Gemeinschaft zu haben.

Wichtig ist die Identifikation mit anderen Landsleuten aber nicht mit dem Heimatstaat an sich

Eines haben alle diese Feiern mit dem Schweizer Nationalfeiertag gemeinsam. Man kleidet sich in den traditionellen Gewändern, spielt Musik aus der Heimat und kocht gemeinsam landestypische Gerichte.

Je länger wir dieses Thema im Unterricht besprachen, desto mehr wurde mir klar, wie wichtig für meine SchülerInnen die Identifikation mit anderen Landsleuten aber nicht dem Heimatstaat an sich ist. Dies ist sicherlich eine Sondersituation aufgrund des Erlebten und nicht 1:1 auf politisch stabile und sichere Staaten wie die Schweiz zu übertragen. Meine vielen Fragen sind also nicht einfach zu beantworten, und vielleicht gibt es auch gar keine allgemeingültige Antwort, da Nationalität und Identität von jedem Menschen unterschiedlich empfunden und gelebt werden. Aber ich habe das Gefühl, dass es den meisten von uns im Wesentlichen darum geht, uns an solchen Tagen als ein Teil einer grösseren Gemeinschaft zu fühlen, die uns Zugehörigkeit, Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Je länger ich über darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass es mir genauso geht.

Mit diesen Gedanken wünsche ich Ihnen eine wunderschöne 1. August Feier – unabhängig davon, aus welchem Grund Sie diesen Tag feiern.

Harald Keller

Pfarrei Erlöser Zürich