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Wer bist Du? Wer willst Du sein?

Können Menschen selbst bestimmen wer sie sein wollen?

Diese Fragen erwecken den Anschein, als wüssten wir so einfach wer wir sind und haben wir überhaupt eine Wahl? Können Menschen selbst bestimmen, wer sie sein wollen, oder tragen sie öffentlich sowie auch privat verschiedene Masken die das „Theaterstück“ Leben für sie bereit hält?
Modellieren sie diese Masken selbst oder sind es vorgefertigte Exemplare? Hinter all diesen Fragen steht die Frage nach dem Person-Sein von Menschen. Denn, Person kann in Bezug auf Maske verstanden werden. Gibt es keine Identität ohne Masken?

Als Nietzsche erklärte: „Gott ist tot“, sprach er nicht wirklich von Gott; das ist keine theologische Behauptung. Um diesen Aufschrei zu verstehen, muss man an die Stelle dieser Aussage die gesamte Kultur des Humanismus stellen, innerhalb derer wir es gewohnt waren, bestimmte Aussagen als Wahrheiten anzusehen, und wo Gott selbstverständlich gegenwärtig war. Wenn ein solcher Rahmen aus den Angeln gehoben wird, was bleibt dann? Dieses Vakuum in der Kultur und der damit einhergehende Sinnverlust muss durch Neuerfindungen der Identitäten aufgefüllt werden.

Das Individuum formt sich in und durch seine Sprache

Wir leben in einer sehr individualistischen Zeit, kollektive Geschichten sind uns suspekt. Die gesamte Geschichte, auch die eigene Familiengeschichte, sind im Wirbelsturm des Vergessens zum Opfer gefallen. Der Mensch sieht sich aber in der Lage, dass er seine eigenen Geschichten und Identitäten neu erfindet. Immer interessanter zu beobachten ist der Druck, unter welchem wir stehen. Es ist der Zwang, einen Sinn in all den täglichen Zumutungen des Lebens zu finden, den wir überall beobachten können. Ob uns dieses Vorhaben gelingt, bleibt eine offene Frage.

Der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész meinte dazu: jeder Mensch ist eine Fiktion davon, dass wir leben, indem wir in unsere eigenen Fiktionen getaucht sind, an ihnen festkleben. Das Individuum formt sich in und durch seine Sprache, es spricht und bringt sich in Form . Jeder Gedanke, der durch uns hindurchgeht, lässt eine neue Fiktion aufkommen.
Dabei entsteht der Eindruck: ich habe eine enorme Freiheit, wie ich mein eigenes Leben bewerte, neu erfinde und ausfülle. Die Politik, die Arbeit, der Chef und die Kollegen, Nationalitäten, Sitten Gebräuche und auch Gesetze – all das sind Teile von gesellschaftlichen und individuellen Angeboten, die darauf warten, von mir interpretiert und gelebt zu werden. Ich selbst habe damit die Freiheit, eine eigene Deutung zu finden und zu leben, wie es mir selbst am besten passt.

Jeder kann alles werden

Nicht zu vernachlässigen ist die Vorstellung, nach der, jeder könne alles werden, zu einer Menge Stress führt. Wir sind darüber hinaus sogar überfordert, etwas zu leisten, um Etwas zu werden. Wir sollen auch im Privatleben unsere Leistung steigern, ohne zu wissen, welche Grenzen es für uns gibt. Klar, es kann nicht jeder alles. Nicht jeder hat dieselben Ressourcen – egal ob materiell, geistig oder körperlich. Oft ist das kein bewusster Faktor, doch solche Unterschiede spielen eine enorme Rolle hinsichtlich unserer Entfaltung. Der homo faber (der zu gestaltende Mensch) lebt auch mit der Naivität zusammen, dass es nur auf den Willen ankäme. Hans-Joachim Maaz bezeichnet dies in seinem Buch: Die narzisstische Gesellschaft als einen „ganz fundamentalen Irrtum“.

Das Verhältnis Person-Maske beschreibt Rahel Jaeggi (Humboldt-Universität) so: „Gerade mit Blick auf die Vergangenheit wird klar, dass wir in unserem Wollen nie ganz frei sind. Vielmehr sind wir geprägt durch unsere Herkunft, unsere Kindheit, geprägt auch durch unsere Körper. Unsere Identität „bildet und drückt sich überhaupt nur aus durch die Rollen, die wir im Laufe eines Lebens annehmen und übernehmen.“ Anders gesagt: Die Masken und Rollen, durch die wir uns ausdrücken, sind das Medium, das wir benötigen, um zu einem Selbst zu kommen und seine Entfaltung zu ermöglichen.
Damit ist die ursprüngliche Fragestellung noch nicht ganz beantwortet. Die nonchalante Behauptung, dass wir in bestimmten Abhängigkeiten stecken, nicht alles zu können, nicht immer wissen, was wir wollen, oder, dass unsere Freiheit immer relativ, und unser Können immer begrenzt ist, kann die Sennsucht nach Sinnsuche, Sinngebung und Selbstfindung gewiss nicht sättigen. Sie vermittelt aber auch nicht die Erkenntnis, dass wir uns nicht entfalten können, dass wir uns nicht freier und unabhängiger machen können, und dass wir nicht versuchen sollten, unseren Willen von gesellschaftlich vermittelten und fragwürdigen Identitätsangeboten zu entkoppeln, damit wir zu unserem eigenen Ich gelangen können.

Dr. Liviu Jitianu

Pfarrei Erlöser Zürich